Die Glitzerkugel

Eine Weihnachtsgeschichte von Reinhard A. Umlauft

Es war ein schöner aber kalter Wintermorgen, dieser Heiligabend, als Wiebke Zettler aus dem Bus stieg. Es hatte über Nacht zu schneien begonnen, und die Landschaft war wie mit einem weißen Tuch zugedeckt. Wie in den Jahren vorher durfte Wiebke über die Weihnachtstage bei ihren Großeltern sein, weil ihre Mutter keine Zeit hatte, sich um ihre kleine Tochter zu kümmern.

Der Vater war vor zwei Jahren gestorben, und Wiebkes Mutter musste von morgens bis abends arbeiten, um den Lebensunterhalt für sich und das kleine Mädchen zu verdienen. So war es auch in diesem Jahr wieder in der Weihnachtszeit. Und als Wiebkes Mutter von ihrem Chef gefragt wurde, ob sie an den Feiertagen arbeiten könne, da blieb ihr keine andere Wahl. Sie sagte zu, obwohl sie Wiebke noch wenige Tage vorher versprochen hatte, in diesem Jahr das Weihnachtsfest mit der Kleinen verbringen zu wollen.

Zuerst war Wiebke sehr traurig. Sie ging still in ihr Zimmer, setzte sich auf ihr Bett, und ein paar Tränen liefen ihr über die Wangen. Als die Mutter nach ihr sah, wischte die Kleine sich tapfer die Tränen weg und sagte: „Du musst nicht traurig sein, Mama, ich fahre gern zu Oma und Opa. Vielleicht sind wir ja nächstes Weihnachten einmal alle zusammen.“ Als die Mutter stumm hinausgegangen war, kuschelte sich Wiebke an ihre vielen Puppen und Teddys auf ihrem Bett. Mit diesen redete sie auch, wenn sie allein zu Haus war.

Der Großvater stand schon an der Haltestelle, als Wiebke aus dem Bus stieg. Den kleinen bunten Rucksack mit ihrem Lieblingsspielzeug auf dem Rücken, die blonden Haare kess unter der Wollmütze hervorlugend, so sprang sie ihrem geliebten Opa entgegen. Liebevoll hob Opa Zettler sein Enkelkind in die Höhe. „Guten Morgen, Wiebke, schön, dass Du da bist. Du bist ja schon wieder gewachsen.“ Und lachend stellte er die Kleine auf den Boden zurück, nahm ihr den Rucksack vom Rücken, und Hand in Hand gingen sie die wenigen Schritte bis zum Haus der Großeltern.

Vor der Tür stand Oma Zettler und begrüßte ihre Enkeltochter genauso herzlich wie ihr Mann. „Kommt rein, das Frühstück steht schon auf dem Tisch. Du hast doch bestimmt noch nicht gefrühstückt, Wiebke, nicht wahr?“ „Nnnneinn,“ sagte Wiebke leise. Gefrühstückt wurde zu Haus nie, weil die Mama von der harten Arbeit morgens noch viel zu müde war, um ein kräftiges Frühstück auf den Tisch zu bringen. Wiebke holte sich dann meist ein Glas Milch aus dem Kühlschrank, steckte sich einen Apfel oder eine Banane in die Tasche und ging allein zum Kindergarten.

„Wenn Du möchtest, kannst Du mit Opa nach dem Mittagessen den Weihnachtsbaum schmücken,“ meinte die Oma, als sie später mit Wiebke den Frühstückstisch abräumte. „Opa hat von Bauer Meckemeier eine schöne Edeltanne geholt. Sie soll in diesem Jahr unser Christbaum sein. Ihr könnt die großen blauen Kugeln nehmen und das Silberlametta. Ich habe schon alles auf den Wohnzimmertisch gelegt.“

„Sei vorsichtig mit den Kugeln,“ sagte Opa Zettler später, als Wiebke die blauen Kugeln behutsam aus den Kästen nahm. „Diese Glaskugeln haben schon am Weihnachtsbaum gehangen, als Deine Oma noch selbst ein Kind war.“ Staunend betrachtete Wiebke die glänzenden Kugeln, in denen sich ihr Gesicht spiegelte. „Ja, und Omas Vater hat immer gesagt, dass man sich in der Heiligen Nacht etwas wünschen könnte, wenn man eine der Kugeln in die Hand nimmt. Der Wunsch würde in Erfüllung gehen.“

Unbemerkt war die Oma ins Zimmer getreten. „Du musst dem Kind doch nicht solch ein Märchen erzählen,“ sagte sie zu ihrem Mann, „sonst glaubt sie das auch noch. Ich wollte das auch immer glauben, aber meine Wünsche sind nie in Erfüllung gegangen.“

Als dann der Christbaum herrlich geschmückt mitten im Zimmer stand und es Abend wurde, gingen die Großeltern mit Wiebke zur Christmesse in die Kirche. Auch dort stand ein wunderschön geschmückter Christbaum neben dem Altar, aber Wiebke sagte leise zum Großvater: „Unser Christbaum ist doch der allerschönste!“ Zärtlich drückte Opa Zettler Wiebke an sich. Sie verstanden sich auch ohne Worte.

Vor dem Gang zur Kirche war Wiebke noch einmal allein ins Wohnzimmer gegangen. Stumm stand sie vor dem großen Baum und schaute an ihm hinauf. Dann nahm sie kurz entschlossen eine der blauen Kugeln ab, drückte sie an sich und sagte leise: „Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass Mama mit uns Weihnachten feiert!“ Sie hatte dabei die Kugel so fest gedrückt, dass sie zerbrach und zu Boden fiel. Erschrocken wollte sie die vielen kleinen Teile aufheben, aber da rief schon die Großmutter nach ihr und schnell verließ sie das Zimmer.

In der Christmesse las der Pfarrer aus der Bibel die Weihnachtsgeschichte vor. Später sang ein Kinderchor, begleitet von einem Harmonium, das schönste Weihnachtslied: Stille Nacht, Heilige Nacht, und die versammelte Gemeinde sang mit. Wiebke saß still und gedankenverloren zwischen ihren Großeltern und dachte an die geliebte Mutter. Erst als die Orgel mit mächtigem Klang einen Choral anstimmte und die Kirchenglocken zu läuten begannen, kam die Kleine wieder zu sich, und dann ging sie an der Hand der Großeltern mit den anderen Besuchern der Christmesse zum Ausgang.

Plötzlich gellte ein Schrei durch die Kirche, so laut, dass er selbst das Orgelspiel übertönte: „Mama, Mama!!!“ Wiebke riss sich von ihren Großeltern los und stürmte auf ihre Mutter zu, die ganz still auf ihrem Platz in der letzten Bank gesessen hatte. Mit Erstaunen wurden die noch in der Kirche befindlichen Besucher Zeugen einer rührenden Szene. Ein kleines Mädchen warf sich in die Arme einer Frau und drückte und küsste sie, und der Frau liefen die Tränen über das Gesicht.

Wiebkes Mutter war es gelungen, eine Kollegin zu gewinnen, die ihre Arbeit übernehmen konnte. Und so hatte sie sich auf den Weg gemacht, um das ihrer kleinen Tochter gegebene Versprechen an diesem Heiligabend doch noch einzulösen.

Als sie dann alle vereint im Wohnzimmer der Großeltern saßen, Weihnachtslieder sangen und Wiebke ein kleines Gedicht aufsagte, da stand Opa Zettler plötzlich auf. Er ging zum Christbaum, bückte sich und nahm die Reste der zerbrochenen Glaskugel in die Hand. „Schade,“ sagte er, „nun ist uns doch noch eine kaputt gegangen.“

Wiebke hat niemandem erzählt, was es mit der zerbrochenen Christbaumkugel auf sich hatte. Aber auch später, als erwachsene Frau, stand sie am Heiligen Abend immer wieder vor dem geschmückten Christbaum mit den blauen Glitzerkugeln und dachte an ihren Weihnachtswunsch, der sich auf so seltsame Weise erfüllt hatte.